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Von Jerez nach Aachen


Aus "BAD Aachen" -- Sonderbeilage zur WM
Von Helga Raue


Die letzten Töne der Musik verklangen. Einen Moment herrschte fast lautlose Stille im weiten Rund, in dessen Mitte die Reiterin und ihr Pferd stillstanden. Dann brach tosender Beifall über das Duo herein, und die Reiterin fiel ihrem Pferd jubelnd um den Hals. Allen war klar, dass das Gold sein musste. Es dauerte einige Augenblicke, bis das Ergebnis auf der Anzeigetafel erschien: 1. Nadine Capellmann und Farbenfroh. Die Aachenerin war Weltmeisterin. Knapp vier Jahre ist das her; im September 2002 in Jerez de la Frontera setzte Nadine Capellmann sich nach dem Mannschaftstitel auch die Einzelkrone auf. Nach dem Mannschaftsgold bei den Olympischen Spielen in Sydney war es ihr bisher größter Erfolg. "Alle Sportler träumen von olympischen Gold, aber der erste Einzeltitel ist schon etwas Besonderes", blickt die heute 41-Jährige zurück. Lange, sehr lange hatte sie darauf warten müssen, immer wieder Rückschläge eingesteckt.
Bereits 1996 bei den Spielen in Atlanta hatte sie als Reservistin zum Team gehört, war aber mit Gracioso nicht zum Einsatz gekommen. Ein Jahr später bei der EM in Verden holte sie das erste Mannschaftsgold mit der deutschen Dressurequipe und ritt auf Gracioso in der Einzelwertung auf Rang 3 - doch die Bronzemedaille bekam eine andere.
Punktgleich hatte Nadine Capellmann nach Grand Prix, Spécial und Kür mit ihrer Teamkollegin Karin Rehbein auf Donnerhall die EM beendet, doch aufgrund des besseren Kürergebnisses bekam ihre Konkurrentin die Medaille, und sie ging leer aus. 1998 und 1999 folgten erneut Team-Gold bei der WM in Rom bzw. der EM in Arnheim, doch in der Einzelwertung wollte es nicht klappen. Und auch bei den Olympischen Spielen in Sydney hatte Nadine Capellmann mit Farbenfroh als Vierte knapp an der Medaille vorbeigegriffen.
2001 bei der EM in Verden war es dann endlich soweit. Zwar gingen nach dem Team-Gold im strömenden Regen alle Hoffnungen in der Kür unter, die Gold-Träume platzten, doch diesmal gab es wenigstens Einzel-Bronze.
Der mögliche Erfolg in Jerez hatte sich bereits in Aachen angedeutet. Eine Sensation lag in der Luft, als Nadine Capellmann Farbenfroh im Großen Dressurpreis zur Musik von Udo Jürgens tanzen ließ. Würde sie Ulla Salzgeber, die amtierende Europameisterin und Favoritin schlagen? "Ich wusste, dass wir eine gute Vorstellung gezeigt hatten, war mir aber nicht sicher, ob das reichen würde", erinnert sich Nadine Capellmann an die Minuten bangen Wartens, während sie lächelnd und winkend unter dem tosenden Beifall der über 5000 Zuschauer ausritt. Das Ergebnis war knapp, doch es war zu ihren Gunsten ausgefallen. "Das war ein ganz besonderer Moment für mich, in Aachen zu gewinnen, einfach unbeschreiblich. Nach so vielen Rückschlägen hatte ich es endlich geschafft", sagt Nadine Capellmann, die nun als Mit-Favoritin zu den Weltreiterspielen nach Spanien fuhr und dort Doppelgold gewann.
Dem Jubel um den Titelgewinn folgte aber nur zu bald die nächste Enttäuschung. Farbenfroh verletzte sich und musste in der folgenden Saison passen. Und obwohl sie mit ihrem älteren Pferd Gracioso sowohl vor dem CHIO Aachen als auch bei der DM besser als einige deutsche Konkurrenten war, wurde der Doppel-Weltmeisterin sowohl der Equipe-Platz in Aachen als auch bei der EM in Hickstead verwehrt. "Das war eine harte Zeit. Nicht berücksichtigt zu werden, obwohl ich ja auch mit Gracioso meine Leistung gebracht habe. Und dazu die Sorgen um Farbenfroh, dessen Verletzung langwieriger als befürchtet war", erinnert sich Nadine Capellmann.
Der schöne bunte Fuchs mit den unglaublichen Bewegungen, der so oft seine Reiterin mit seinen Auftritten zwischen Genie und Wahnsinn in ein Wellenbad der Gefühle gestürzt hatte, sollte nicht mehr in der großen Sport zurückkehren. Zwar gab es noch einmal ein Comeback, doch das endete nicht wie erhofft. Und da Gracioso inzwischen in die verdiente Rente gegangen war, stand die Weltmeisterin ohne Spitzenpferd da.
Doch die Zukunftshoffnung stand bereits im stall, gleich neben Farbenfroh. Elvis hieß der muntere Youngster, der von sich - wahrscheinlich als einziges Pferd der Welt - behaupten darf, gleich drei Olympiasieger in den Sand gesetzt zu haben. Martin Schaudt (Albstadt), Team-Olympiasieger 1996 in Atlanta und 2004 in Athen, hatte den Fuchs bei der Verdener Auktion gesehen und gekauft. Womit sich auch der Zusatz VA hinter seinem Namen erklärt, denn der bedeutet schlicht "Verdener Auktionspferd". Elvis erhielt bei Schaudt die Grundausbildung, bis er sechsjährig in den Stall von Nadine Capellmann wechselte. Und hier setzte er zuerst die Aachenerin und kurz darauf ihren damaligen Trainer Klaus Balkenhol (Rosendahl), Team-Olympiasieger 1992 in Barcelona und 1996 in Atlanta sowie Bronzemedaillengewinner 1992, gepflegt in der Sand. Nadine Capellmann lacht: "Elvis war schon ein Frecher, aber schon damals zeigte er sein ungeheures Potenzial. Und als Espri-Sohn kann er auch gut springen. Hugo Simon, dessen ET die gleiche Abstammung hat, wollte ihn mir schon abkaufen." Verkaufen wollte die Aachenerin den damals Sechsjährigen auf keinen Fall, aber im WM-Jahr auch das Risiko weiterer Stürze nicht eingehen, und so gab sie ihn zu Heiner Schiergen (Krefeld) in die Ausbildung. Der im Rheinland bekannte Dressurreiter förderte den Youngster bis Klasse S, bis ihn Nadine Capellmann im Sommer 2004 wieder übernahm. Und gleich mit einem absoluten Paukenschlag auf sich aufmerksam machte: Mit einer nie dagewesenen Note gewann sie die Qualifikation für den Nürnburger Burgpokal in Lingen. Und vier Monate später mit ebensolchen Fabelnoten das Finale in Frankfurt, wo die große Dressurwelt endgültig aufhorchte, als der Fuchs mit sensationeller Leichtigkeit durch die Festhalle schwebte.
"Elvis ist ein tolles Pferd, wahrscheinlich das beste, dass ich je geritten habe", schwärmte die Aachenerin damals. "Besser noch als Farbenfroh, der zwar genial, aber auch nicht einfach war. Ich bin glücklich, noch einmal ein solches Pferd gefunden zu haben." Dem Glücksjubel von Frankfurt folgten nur zwei Tage später bittere Tränen. Nach einer Routineoperation brach sich Farbenfroh beim Aufstehen nach der Narkose ein Bein und musste eingeschläfert werden.
"Mein Schnuckelchen war so ein großartiges Pferd, das tat sehr weh", ist Nadine Capellmann auch heute noch von der Erinnerung an jene schrecklichen Stunden berührt. "Ich habe immer gehofft, dass er noch einmal zurückkommt. Und wenn nicht, dass er wenigstens mit Gracioso zusammen auf der Wiese noch einen schönen Lebensabend gehabt hätte."
Die damaligen Erfahrungen haben Nadine Capellmann geprägt. Nur zu gut weiß sie heute, wie schnell der Erfolg ins Gegenteil umschlagen kann, wie schnell alle Hoffnungen zerplatzen können, wie tief man vom Thron stürzen kann. "Ich weiß, ich muss mich sehr glücklich schätzen, dass ich mit Elvis noch einmal eine solche Chance erhalten habe. Meistens findet man als Reiter nur einmal in seinem Leben so ein außergewöhnliches Pferd, und ich habe mit Farbenfroh und Elvis gleich zweimal das Glück gehabt", sagt sie mit leiser Stimme.
Zielstrebig hat sie seither auf ihr Ziel, die Weltmeisterschaft in Aachen hingeritten. "Die ist für mich in vielerlei Hinsicht etwas ganz Besonderes, nicht nur weil ich hier meine zwei Goldmedaillen von Jerez verteidigen muss", sagt die zierliche Amazone. "Als Aachenerin ist der Aachener Turnierplatz meine Heimat, hier bin ich schon als Kind mit meinem Vater hingekommen, wenn er geritten ist. In Aachen selber zu reiten, ist jedes Jahr das Größte. Und hier zu gewinnen einmalig. Und so ist natürlich die WM noch einmal ein besonderes Highlight", sagt sie und fügt dann mit einem Lächeln hinzu: "Es ist ja meine WM."
Nach ihren drei Siegen beim CHIO im Mai, darunter der Gewinn des Großen Dressurpreises mit ihrer Elvis-Kür und die Krönung zum Dressur-Champion von Aachen, und den Siegen in Lingen gehört die Aachenerin zum Favoritenkreis um die Medaillen. Daran ändert auch der kleine Rückschlag jüngst bei den Deutschen Meisterschaften in Münster nichts. Am ersten Tag hatte Elvis im Grand Prix die Mitarbeit in den Piaffen verweigert, sich dann aber im Spécial und in der Kür stetig gesteigert und letztlich noch DM-Bronze gewonnen. Überraschend hatte sich Nadine Capellmann am Abend nach dem Grand Prix von ihren Trainer Martin Schaudt getrennt. Schaudt hatte im August 2005 das Training seiner damaligen Lebensgefährtin in Nachfolge von Klaus Balkenhol übernommen und es auch nach der privaten Trennung im Oktober 2005 weiter gemacht. "Unsere verschiedenen Reitweisen passten einfach nicht mehr zusammen, das war nicht mehr ich", begründete Nadine Capellmann den überraschenden Schritt in Münster, der aber auch ein Befreiungsschlag zu sein scheint, blickt man auf ihre folgenden Auftritte. "Jetzt kämpft Elvis wieder für mich." Bis zur WM wird sie nun von Bundestrainer Holger Schmezer betreut.
Anno 2006 schließt sich erst einmal der Kreis. Vier Jahre mit Höhen und Tiefen liegen hinter Nadine Capellmann, die trotz aller Rückschläge ihr Ziel erreicht hat. "Erst einmal freue ich mich, dass ich in Aachen bei der WM, meiner WM dabei bin", sagt die Aachenerin mit einem Lächeln. "Und ich bin dankbar, dass ich mit Elvis noch einmal ein solches Pferd habe. Er ist jung und hat noch viel vor sich." Team-Gold ist fast ein Muss für die deutsche Dressurequipe, die seit über 30 Jahren bei einem Championat nicht mehr geschlagen wurde, allerdings im vergangenen Jahr bei der EM in Hagen nur hauchdünn die Niederländer schlug und diesen anschließend beim CHIO Aachen unterlag. "Wir können die Niederländer schlagen. Und im Einzel da ist alles möglich", ist die Aachenerin vorsichtig. Aber eins ist sicher: Wenn die letzten Klänge ihrer Elvis-Kür im großen Stadion vor der unglaublichen Kulisse von über 40000 Zuschauern verstummt sind, wird nach einem kurzen Moment andächtiger Stille erneut der Beifall über die Reiterin und ihr großartiges Pferd hereinbrechen. Und vielleicht gibt es dann zur Belohnung erneut eine WM-Medaille.....